Nicolas Langmann ist das Aushängeschild für Österreichs Rollstuhltennis und schaffte es bislang zu zwei Paralympics (Rio de Janeiro 2016 und Tokio 2020).
IMAGO/tennisphoto.de

Am Sonntag laufen sie wieder "für die, die es nicht können". Der Wings for Life Run soll just am europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen Erlöse für die Rückenmarksforschung lukrieren und Sichtbarkeit schaffen. Österreichs bester Rollstuhltennisspieler Nicolas Langmann ist wieder dabei. Der 27-Jährige übte kürzlich scharfe Kritik an einer Performance bei der ORF-Show Die große Chance.

STANDARD: Beginnen wir mit einem Rückblick. Haben Sie die Performance bei der "Großen Chance" zur Erstausstrahlung gesehen?

Langmann: Meine Freundin hat sie gesehen. Ich bin am Tag nach der Erstausstrahlung von einem Turnier heimgekommen, sie hat mir das Video gezeigt und gefragt, was ich davon halte. Mein erster Eindruck war: Es ist einfach abstrus, wie sehr man auf die Tränendrüse drückt und mit allen Mitteln das Bild des armen Behinderten vermittelt. Da geht es auch um die Musik, die Gestaltung, die Gesichtsausdrücke. Der Tänzer haut sich auf die Beine, weil er sie so hasst. Ich war im ersten Moment sprachlos.

STANDARD: Die Tanzgruppe hat sich so erklärt, dass man das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn darstellen wollte.

Langmann: Diese Geschichte kann man aber auch ohne diese Scheinwelt erzählen, ohne diese ganzen Klischeebilder. Im Hintergrund wird gesungen während der Sequenz, in der der Tänzer gehen kann: "I’ve been locked out of heaven for too long", und wenn er im Rollstuhl sitzt: "I’m a creep." Ich denke, es ist klar, worum es geht.

STANDARD: Was kam nach der Sprachlosigkeit?

Langmann: Ich habe mir ehrlich gesagt erwartet, dass sofort eine Reaktion kommt, aber die kam nicht. Während der Sendung wurde der Auftritt von allen Seiten beklatscht und bewundert: Toll, was für eine schöne Geschichte. Dabei strotzt sie nur vor lauter Red Flags. Ich habe mich dann in meinem Umfeld, bei meiner Familie und Menschen mit Behinderung umgehört, was sie davon halten. Alle waren schockiert. Ausschlaggebend ist natürlich auch die Reichweite – ORF 1, Hauptabendprogramm. Ich wollte dieses Bild, das da ungefiltert transportiert wurde und das Menschen mit Behinderung schadet, nicht unkommentiert lassen.

STANDARD: Was ist dieses Bild?

Langmann: Klar freut man sich nicht, wenn man nach einem Autounfall im Rollstuhl sitzt, also warum darf man nicht zeigen, dass das auch scheiße sein kann? Es geht, finde ich, vor allem darum, dass offensichtlich eine Gruppe von Menschen ohne Behinderung sich überlegt, wie sie die Geschichte eines Menschen mit Behinderung darstellt. Über uns, ohne uns. Und dabei dann ein Bild vermittelt wird, dass das Leben im Rollstuhl als nicht lebenswert darstellt. Ohne Behinderung verliebt er sich, findet eine Freundin. Mit Behinderung ist die Freundin plötzlich nicht mehr da, er ist also nicht mehr liebenswert. Ein Leben mit Behinderung ist also weniger lebenswert als ein Leben ohne Behinderung.

STANDARD: War es verletzend?

Langmann: Ich war eher überrascht. Ich bin jetzt 27 Jahre alt und sitze 25 davon im Rollstuhl. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Klischees und Vorurteile allgegenwärtig sind, es gibt also fast nichts, das ich nicht schon gesehen oder gehört habe. Aber es war so groß und so offensichtlich, dass ich mir dachte, ich muss etwas dazu sagen.

STANDARD: Sie sagen in Ihrer Reaktion auch: "Es ist das Jahr 2024, ich dachte, wir sind weiter." Sind wir also nicht weiter?

Langmann: Eigentlich schon. Deshalb ist es auch so herausgestochen, weil ich mich wieder in einer Welt wähnte, die sich fremd anfühlt. Ich lebe aber natürlich in einem Umfeld, einer Welt, die sensibilisiert ist. Und vielleicht hat diese Show auch gezeigt, dass es noch Aufklärungsbedarf gibt. Es geht auch darum, das Hauptaugenmerk von der Behinderung zu nehmen. Man kann das alles nicht verallgemeinern: Natürlich gibt es Menschen, die mit ihrer Behinderung und ihrem Schicksal hadern, aber nur weil ich mit einer Behinderung lebe, bin ich nicht automatisch unglücklich. Wenn man dieses Bild immer wieder reproduziert, wird es zu einer Selffulfilling Prophecy.

STANDARD: Gab es nach Ihrem Video Reaktionen vom ORF oder von der Tanzgruppe selbst?

Langmann: Ja. Gleich am Tag nach meiner Stellungnahme haben sich einige Akteure der Sendung bei mir gemeldet und gemeint, dass es ihnen leidtut und dass sie das gerne aufarbeiten wollen. Und dass es von der Tanzgruppe nicht böse gemeint war, was ich absolut nachvollziehen kann. Andererseits wurde ich von ORF-Seite immer wieder gefragt, warum ich mich nicht direkt bei ihnen melde. Und mir wurde damit ein bisschen das Gefühl gegeben, dass ich vorschnell gehandelt habe, dieses Video zu veröffentlichen.

STANDARD: Das klingt ein bisschen so, als würde man eine breite Diskussion eher vermeiden wollen.

Langmann: Ich hatte im ersten Moment das Gefühl, dass ich ihnen auf die Zehen gestiegen bin, obwohl meine Kanäle ja eine viel geringere Reichweite haben. Und es war ein unangenehmes Gefühl, denn ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die ableistisch war, wo ich oft bei vielen Sachen nicht dabei sein durfte und auch dadurch jemand bin, der nur nicht anecken, nicht auffallen will. Ich bin froh, dass ich überhaupt dabei bin. Dann habe ich Aktivismus betrieben, und die Leute haben mir gesagt: "Ja, danke, aber nächstes Mal mach das anders." Und ich habe mich schlecht gefühlt und dafür entschuldigt. Aber ich will mich in Zukunft nicht mehr für Aktivismus entschuldigen.

"Es geht darum, dass die Behinderung nicht immer im Vordergrund steht."
IMAGO/tennisphoto.de

STANDARD: Es gab große Diskussionen um einen Buben im Rollstuhl in der Sendung Wetten, dass..?. Parasportler und Moderator Andreas Onea hat im STANDARD-Interview gesagt, dass es einfach weggewischt wird, wenn Menschen mit Behinderung Kritik am Umgang mit ihnen üben. Hat er da recht?

Langmann: Ich kann zu 100 Prozent unterschreiben, was Andi gesagt hat. Ich habe ja jetzt auch das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss, weil ich das Thema überhaupt anspreche.

STANDARD: Ein großes Thema ist auch immer die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung. Hier war wohl eine falsche Sichtbarkeit gegeben. Wie sieht sie im Idealfall aus?

Langmann: Es geht darum, dass die Behinderung nicht immer im Vordergrund steht. Es kann bei einer Tanzgruppe ja durchaus ein Rollstuhlfahrer dabei sein, aber man muss nicht zwingend seine Geschichte erzählen oder erklären, welchen schlimmen Unfall er hatte. Auf der Bühne wurde ein Autounfall inszeniert mit quietschenden Reifen, Bremsen und einem Aufprall. Und ich hatte genau diesen Autounfall, es wurde also meine Geschichte erzählt. In der Darstellung geht es darum, unaufgeregter und sachlicher zu sein und zu zeigen: Ja, da ist ein Mensch mit einer Einschränkung, ein Mensch mit einer Behinderung oder einer, der mit Gebärdensprache kommuniziert. Aber das muss nicht immer so zum argen Thema gemacht werden.

STANDARD: Am Sonntag findet der Wings for Life Run statt, eine der größten Sportveranstaltungen weltweit, die auch an der Sichtbarkeit schraubt. Bringt das wirklich etwas, oder steht der Marketingeffekt im Vordergrund?

Langmann: Ich bin ja seit längerem eine Art Testimonial für den Wings for Life World Run und war schon oft dabei. Es ist auch das einzige Laufevent, an dem ich teilnehmen kann, das ist natürlich megacool, und der Spirit, der verbreitet wird, gefällt mir sehr. Nur mit dem Motto holen sie mich persönlich nicht ab: "Laufen für die, die es nicht können" – roll ich also für mich selbst mit? (Andreas Hagenauer, 4.5.2024)