Der Sound von Straßburg in Plenarwochen ist der von rollenden Koffern und babylonischem Sprachgewirr. Die Züge, die am Montag aus dem 450 Kilometer entfernten Brüssel an der Gare Central eintreffen, spucken tausende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Europäischen Union aus. Sie bevölkern die Hotels der Stadt, die Airbnb-Wohnungen und vor allem das Louise-Weiss-Gebäude, heutiger Sitz des Europaparlaments. Einmal im Monat wird die Europastadt Straßburg für vier lange Tage zur alleinigen EU-Hauptstadt. Ende April war es das letzte Mal für diese Legislaturperiode so weit.

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Der Wahlkampf hängt schon bleiern über dieser letzten Plenartagung. Auf den Gängen des EU-Parlaments wird geflüstert. Schon wieder ein Skandal aus der rechten Fraktion: Erst der deutsche Abgeordnete Petr Bystron, Nummer zwei der AfD für die EU-Wahl, der verdächtigt wird, von einem prorussischen Propagandanetzwerk gegen Geld instrumentalisiert worden zu sein. Dann ihr Spitzenkandidat, der EU-Abgeordnete Maximilian Krah, dessen Mitarbeiter interne Informationen aus dem Europaparlament an China weitergegeben haben soll. Werden die Skandale zur Belastung des AfD-Wahlkampfes?

Die meisten der linken und der Zentrumsparteien hätten, wenn sie ehrlich sind, wohl nichts dagegen. In den Hallen der Europäischen Union werden "europaskeptische Parteien" wie die AfD, die österreichische FPÖ oder die Partei von Frankreichs Paraderechter Marine Le Pen als Feindbilder empfunden, die demokratische Standards aushöhlen und mit diktatorisch regierten Staaten anbandeln. Und weil es dafür auch zahlreiche Belege gibt, kommt diese Woche eine Resolution zur Einmischung Russlands im Europäischen Parlament zur Abstimmung.

SPÖ-Delegationsleiter Andreas Schieder hat das Schriftwerk für die sozialdemokratische Fraktion mitverhandelt, die auch auf den "Freundschaftsvertrag" zwischen den österreichischen Freiheitlichen und Putins Partei Einiges Russland und die Spionageaffäre um Egisto Ott eingeht.

Auch der ins Gerede gekommene AfD-Spitzenmann Maximilian Krah war in Straßburg.
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"Das sind bezeichnende Verbindungen, die sich auch in politischen Argumentationen und Aktivitäten wie dem Verwässern von Resolutionen niederschlagen, wenn es zum Beispiel um die Ukraine geht", sagt Schieder dem STANDARD in Straßburg. Er warnt vor allem auch vor politischer Einflussnahme und Desinformation über soziale Medien und Algorithmen. "Wir reden oft von Cyberangriffen auf unsere Infrastruktur. Aber unsere wichtigste und verletzlichste Infrastruktur ist die Demokratie." Vor den Wahlen am 9. Juni ist diese Gefahr – und die Nervosität – besonders hoch.

Abstimmungen im Sekundentakt

Nichtsdestoweniger stehen diese Woche noch elf Gesetzgebungsdossiers mit hunderten von Änderungsanträgen zur Abstimmung. "Bitte streich diesen Satz noch, ansonsten passt es jetzt": Die Assistentin eines italienischen Abgeordneten nimmt per Telefon noch den letzten Schliff an einer Stellungnahme vor. Bevor eine Abstimmung erfolgt, haben Berichterstattende noch die Gelegenheit, ein paar erklärende Worte voranzustellen.

Die Meinungen sind zu diesem Zeitpunkt allerdings längst gebildet, Billigung und Ablehnung in die umfangreiche Liste eingetragen, die die Büros der Parlamentarier und Parlamentarierinnen feinsäuberlich und übersichtlich vorbereitet haben.

In den Abstimmungssessions im "Dôme", dem holzverkleideten Plenarsaal, bleibt auch keinerlei Zeit, um es sich nochmals anders zu überlegen. "Who is in favour? Who is against? Who abstains? Adopted." Im Sekundentakt gehen die Arme der fast vollzählig anwesenden Abgeordneten in die Höhe. Routiniert überblickt die vorsitzende EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola die Reihen, sieht, ob ein Abänderungsantrag angenommen ist oder nicht. Knappe Ergebnisse werden elektronisch überprüft.

Auch die Tirolerin Barbara Thaler hat diese Woche, am vorletzten Tag der eigenen Parlamentsperiode, eine zentrale Rolle. Die ÖVP-Abgeordnete, Mitglied der EVP-Fraktion, die im Plenarsaal ihren Platz in der zwölften Reihe hat, erstattet gemeinsam mit dem französischen Liberalen Dominique Riquet Bericht zum "Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes". 2050 soll das Riesenvorhaben abgeschlossen sein, 1,5 Billionen Euro werden die gesamten Baukosten des größten Zivilprojekts auf dem Kontinent ausmachen. Zweieinhalb Jahre haben die Vorbereitungen der Verordnung dazu gedauert.

"Von Kiew bis Lissabon, von Oslo bis Sizilien", betont Thaler in ihrer Wortmeldung vor der Abstimmung, werde dieses Gesetz den Kontinent über die nächsten Jahrhunderte prägen. "Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie europäische Politik funktioniert", sagt Thaler in der Members Bar im Glaspalast des Europäischen Parlaments. Über 2000 Abänderungsanträge wurden im zuständigen Ausschuss von den Verhandlern aller Parteien bearbeitet, genaue geografische Karten angefertigt, Mehrheiten gefunden. Mit Kommission und Rat im sogenannten "Trilog" ausdiskutiert. "Das dauert oft nächtelang", erzählt Thaler. Der Wermutstropfen aus ihrer Sicht: Die Mitgliedsstaaten haben einen Haushaltsvorbehalt verhandelt, der Erfolg des Projekts steht und fällt mit dem politischen Willen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (re., mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola) sichert den Standort Straßburg.
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Wie die Umsetzung in den Mitgliedsstaaten letztlich läuft, wird Thaler von ihrem Heimatbundesland Tirol aus verfolgen. Bei den Wahlen zum EU-Parlament tritt sie nicht mehr an. Auf sie wartet die Funktion der Wirtschaftskammerpräsidentin und Obfrau des Tiroler Wirtschaftsbundes. "Ich werde die fünf Jahre in sehr guter Erinnerung behalten", erzählt die 42-Jährige. Die Zelte in Brüssel sind mittlerweile abgebrochen. "Schachteln einräumen, und dann geht es nach Hause."

Alltag in Sneakers

Caroline Parsché, Büroleiterin des Abgeordneten Lukas Mandl (ÖVP), befindet sich noch längst nicht im Abreisemodus. Sie ist eine von über 10.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die den "Maschinenraum der europäischen Gesetzgebung" am Laufen halten.

In der Flowers Bar, wo sich Mitarbeiterinnen, Besucher und Journalisten um preiswerten Kaffee und teure Sandwiches anstellen, gibt sie einen Einblick in den Parlamentsalltag. Die 29-Jährige begann ihre Karriere als Praktikantin, wurde als Assistentin übernommen, seit etwa einem Jahr leitet sie das Büro. Die inhaltliche parlamentarische Arbeit in den zahlreichen Ausschüssen teilt sie sich mit zwei Mitarbeitenden.

In dieser Zeit habe sie schnell gelernt, dass bequeme Schuhe eine der Grundvoraussetzungen für den Job seien, schmunzelt Parsché: "Da rennt man schon mal mit allerletzten Änderungen an dringlichen Resolutionsentwürfen in den Plenarsaal", erzählt sie und schaut liebevoll auf ihre weißen Sneakers hinunter. "Hautnah an Verhandlungsprozessen teilzunehmen, das gibt auch viel Energie."

Mittlerweile wird Parsché öfter auf die Netflix-Politiksatire Parlament angesprochen, die den Arbeitsalltag im EU-Parlament aus der Sicht des jungen parlamentarischen Assistenten Samy schildert. Der naive Neuling lässt sich schon an seinen ersten Arbeitstagen von einem Lobbyisten instrumentalisieren, der sich als hilfreicher Mentor ausgibt. Genau deswegen gebe es im echten Leben auch die ultrastrengen Transparenzregeln für Mitarbeiter, weiß Parsché. Jedes Gespräch, jedes Treffen müsse aufgelistet und begründet werden.

In der Euroscola simulieren Jugendliche die Parlamentsarbeit, im Bild die BHAK und BHAS Wien 22.
BHAK und BHAS Wien 22

Dass Lobbygruppe nicht gleich Lobbygruppe ist, liegt dabei in der Natur der Sache. Einerseits ist der Austausch mit Vertretern berechtigter Interessen ein notwendiger Teil des Entscheidungsfindungsprozesses; andererseits ist der Grat zur unlauteren Beeinflussung oder gar zur illegalen Bestechung ein schmaler.

Erst im Mai vergangenen Jahres wurden die Transparenzregeln für Lobbyisten als Teil der Reaktion auf den sogenannten Katargate-Skandal ein weiteres Mal verschärft. Damals wurden EU-Abgeordnete aus der sozialdemokratischen S&D-Fraktion, Beamte und Lobbyisten der Korruption, Geldwäsche und organisierten Kriminalität im Interesse fremder Regierungen beschuldigt. Bekanntestes Gesicht der Affäre: die griechische Abgeordnete Eva Kaili, damals Vizepräsidentin des EU-Parlaments. Die Ermittlungen der belgischen Staatsanwälte sind noch nicht abgeschlossen.

Das pendelnde Parlament

Auch die ambitionierten Schülerinnen und Schüler der BHAK und BHAS Wien 22, die in dieser Woche beim Programm "Euroscola" in Straßburg mitmachen, haben teilweise von Skandalen gehört. So richtig bewusst, wie komplex die Arbeit in einem derart diversen Haus wie dem Europaparlament ist, wird ihnen erst, als sie gemeinsam mit Jugendlichen aus ganz Europa Debatten und Entscheidungsfindungen im Europäischen Parlament simulieren. Behandelt wird das Thema "Demokratie". Vier Gruppen mit unterschiedlichen Standpunkten versuchen, einander ihre Überzeugungen zu begründen.

Während die Jugendlichen im EU-Parlament Politik fingieren, wird am anderen Ufer der Ill reale Politik gemacht. Im Beisein von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wird in der Europäischen Schule in der Rue Peter Schwarber der 15. Dreijahresvertrag "Straßburg, europäische Hauptstadt" unterzeichnet, der die Rolle der Stadt Straßburg als europäische Hauptstadt und Sitz der europäischen Institutionen unterstreicht. Alle drei Jahre wird diese symbolische Handlung vollzogen – wohl auch im Bewusstsein, dass das monatliche Pendeln der EU-Parlamentarier zum französischen Hauptsitz immer wieder in die Kritik gerät. Zu aufwendig, zu teuer, zu viel unnötiger CO2-Ausstoß, heißt es.

Abschiedsstimmung im Plenum. Wird es ein Wiedersehen geben?
DER STANDARD / Honsig-Erlenburg

Die Gründe, warum die Union bisher trotzdem an Straßburg festhält, liegen aber nicht nur in den Verträgen. Viel gravierender wiegt die historische Bedeutung der elsässischen Stadt, die in der Geschichte hart umkämpft war. 1949, bei der Gründung des Europarats (des zwischenstaatlichen Gremiums für Menschenrechte und Kultur), schrieb der britische Staatssekretär Ernest Bevin: "Die Wahl Straßburgs schien mir eindeutig. Diese große Stadt, die Zeuge der menschlichen Dummheit gewesen ist, soll zum Symbol der Einheit Europas werden." Bis 1999 fanden die Sitzungen – zuerst jene der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und dann die des EU-Parlaments – noch im Europarat statt.

Mittlerweile hat sich das Viertel rund um die Orangerie zu einem Viertel der internationalen Beziehungen entwickelt. An den Ufern der Ill und des Rhein-Marne-Kanals erhebt sich seit 1998 das gewaltige Europäische Parlament. Am letzten Tag der Plenarwoche leert sich das Gebäude schnell. Abgeordnete, die nicht mehr zur Wahl stehen, oder jene, die fürchten müssen, nicht wiedergewählt zu werden, verabschieden sich vom Parlamentsbetrieb. Den anderen steht ein intensiver Wahlkampf bevor. Abschieds- und Aufbruchsstimmung.

Die Rollkoffer prägen wieder das Stadtbild. Bald ist es ruhiger in der Europastadt. (Manuela Honsig-Erlenburg aus Straßburg, 3.5.2024)