Im Gastbeitrag erklären die Rechtswissenschafter Stephan Schmid und Chris Thomale von der Universität Wien, warum die Lieferkettenrichtlinie heimische Unternehmen aus ihrer Sicht überlasten könnte.

Kaum ein Gesetzgebungsprozess verlief in den vergangenen Jahren so kontrovers wie jener der Lieferkettenrichtlinie (CS3D). Am Mittwoch stimmt nun das EU-Parlament über den Kompromisstext ab. Die CS3D legt Unternehmen eine neuartige Sorgfaltspflicht auf. Völkerrechtlich vereinbarte Grundwerte wie das Verbot der Kinderarbeit oder der Umweltverschmutzung sollen durch heimische Unternehmen mittels Lieferkettenbeziehungen über die EU-Grenzen exportiert und damit globalisiert werden. Das Ziel: die Verbesserung des Menschenrechts-, Umwelt- und Klimaschutzes in Drittstaaten.

Der endgültige Kompromiss formuliert das weltweit bisher anspruchsvollste Regelwerk im Bereich Environment Social Governance (ESG). Er geht weit über Vorbilder wie das deutsche Lieferkettensorgfaltsgesetz (LkSG) oder die französische loi de vigilance (wörtlich: Wachsamkeitsgesetz) hinaus. So dehnt er den Verantwortungsraum auch auf Teilnehmer der Lieferkette aus, zu denen hiesige Unternehmen keine vertragliche Beziehung unterhalten und somit auch kaum Einfluss ausüben können. Innerhalb der Lieferkette, und zwar von der Rohstoffbeschaffung bis zum Vertrieb, haben Unternehmen eine schwer zu überschauende Anzahl von vage formulierten Menschenrechts- und Umweltübereinkommen zu beachten. Klimaziele haben eine Sonderbehandlung erfahren: Unternehmen werden lediglich verpflichtet, einen Klimaübergangsplan aufzustellen und sich um die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels zu bemühen; scharfe Erfolgspflichten oder Sanktionen diesbezüglich bestehen nicht.

Näherinnen in einer Kleiderfabrik in Bangladesch
Europäische Unternehmen müssen ihre Produzenten künftig genauer unter die Lupe nehmen.
IMAGO/Habibur Rahman

Umstrittener Weg

Der Regulierungsansatz der CS3D ist bedenklich: Anstatt drittstaatliche Zulieferer durch eine zentrale Behörde zu prüfen und ungenügende Zulieferer durch Negativlisten zu kennzeichnen, soll eine dezentrale und damit multiple Eigenprüfung durch die europäischen Unternehmen erfolgen. Das erscheint ineffizient. Alternativkonzepte wie jenes des österreichischen ASCII hätten mehr Aufmerksamkeit verdient.

Neben der fehlenden Effizienz steht auch die Effektivität des Ansatzes infrage: Denn beenden europäische Unternehmen aufgrund der Kostenbelastung und des weitreichenden Haftungsregimes Verträge mit drittstaatlichen Zulieferern, kann das Regulierungsmodell nicht wirken, da der notwendige Einfluss über die Lieferkette zur lokalen Verbesserung der Menschenrechts- und Umweltlage verlorengeht. Erste empirische Untersuchungen zur loi de vigilance und zum deutschen LkSG zeigen, dass dieser Rückzug bereits im Gange ist.

Mit einem ineffektiven und ineffizienten Regulierungsansatz wird ein Export des Regulierungsmodells in andere Volkswirtschaften zudem kaum gelingen. Derzeit steht die EU allein da: Amerikanische oder asiatische Länder kennen kein vergleichbares Regularium, weshalb europäische Unternehmen im Verhältnis zu Drittstaaten genau die Wettbewerbsnachteile befürchten, die die CS3D innerhalb des Binnenmarkts vermeiden möchte. Diese globale Erfolglosigkeit hintertreibt jedoch nicht zuletzt die politische Zweckhaftigkeit des regionalen Handelns an sich, weil Emissionen und Lieferketten lediglich aus dem Inland verdrängt werden, anstatt sie nachhaltig zu verändern.

Zivilrechtliche Haftung

Bei Verletzung der Sorgfaltspflicht droht heimischen Unternehmen unter anderem eine Schadenersatzhaftung. Diese ist problematisch, da Schadenersatzansprüche nach österreichischem Zivilrecht allein dann gewährt werden, wenn das Schadensgeschehen im Einflussbereich des Verpflichteten liegt, also insbesondere nicht ausschließlich einem eigenverantwortlich handelnden Dritten zuzurechnen ist. Die CS3D weitet diese Schadenersatzverantwortung über alle geografischen, organisatorischen und sozialen Grenzen hinweg auf die gesamte Lieferkette aus und dürfte heimische Unternehmen damit überlasten.

Zugleich verfehlt dieser einseitige Ansatz andere institutionelle Hindernisse, die einem effektiven Ausgleich von Lieferkettengeschädigten im Wege stehen. So scheitern Zivilklagen derzeit nicht an einer zu laxen Schadenersatzhaftung, sondern an prohibitiv hohen Verfahrenskosten sowie an einer unflexiblen Behandlung internationaler Sachverhalte. An beiden Missständen wird die CS3D nichts ändern. Sie könnte sogar das Schlechteste aus beiden Welten kombinieren: einerseits ausufernde Sorgfaltspflichten und Haftungsdrohungen, die hohe Verwaltungskosten verursachen und so Verbraucherpreise erhöhen, während sich die betroffenen Unternehmen möglicherweise aus den betroffenen Regionen zurückziehen und diese in eine Depression stürzen – andererseits weiterhin keine effektive Rechtsdurchsetzung für die Betroffenen.

Trotz langwieriger Verhandlungen wirkt der Kompromiss noch unausgegoren. Offenbar haben die Autoren des Vorschlags bisher eine pragmatische, insbesondere volkswirtschaftlich und empirisch informierte Zweck-Mittel-Betrachtung unterlassen. Es erscheint ratsam, dies noch vor Inkrafttreten der Richtlinie nachzuholen, anstatt damit bis zu ihrer Evaluation zu warten. (Stephan Schmid, Chris Thomale, 23.4.2024)